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Würde und Gastrecht


  • Institut für Systemische Beratung und Entwicklung Schulplatz 5 53545 Linz/Rhein Germany (map)

Grundlage der lebendigen Geschichte. 
Arbeiten mit den beiden biographischen Methoden „Biographische Analyse“ und „Familienrekonstruktion“ 

Ansprechpartner: Dr. med. Thomas Heucke
Telefon 02644/980026 – Fax 02644/981153
E-Mail: ISBE.linz@t-online.de Homepage: www.isbe-linz.de
Telefonische Anmeldung und Rückfragen sind dienstags bis donnerstags jeweils zwischen 15.30 und 16.00 Uhr möglich. 

Die Notwendigkeit einer biographischen Neubesinnung hat der Arzt Viktor von Weizsäcker aus den Schwächen der Psychoanalyse entnommen und im kollegialen Austausch mit Sigmund Freud bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck gebracht. Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er als Inhaber des in Heidelberg neugegründeten ersten Lehrstuhls für „Allgemeine klinische Medizin“ sein Projekt einer Biographik, die das Problem des kranken Menschen als ein empirisch zu begreifendes geschichtliches lehrt, nicht mehr methodisch zur Entfaltung bringen. Um den Anforderungen der von ihm ermutigten Orientierung gerecht zu werden, muss man sich die historische Dimension seines Scheiterns vor Augen halten. Wer sich heute der Biographik widmet, betritt den Boden eines Vermächtnisses, das durch systemisches und strukturelles Denken allein nicht annähernd zu erfassen ist. 

Die grundlegende These der von mir in dieser Tradition entwickelten Biographik lautet: Dem menschlichen Leben wohnt eine Rechtsordnung unmittelbar inne, die mit dem Namen „Gastrecht“ und mit der Feststellung, dass die Würde des Menschen unantastbar sei, zutreffend charakterisiert ist. Die These besagt vor allem, dass diese leibhaftige Rechtsordnung der Erforschung zugänglich ist. Meines Wissens gibt es keinen anderen Ansatz für ein wissenschaftliches Programm, das diesem Ziel gewidmet ist. Ebenso bemerkenswert erscheint mir die folgende Tatsache: Die biographische Heuristik stützt sich nicht nur auf die unmittelbar überprüfbaren Daten und Fakten, die bei der Erhebung von Stammbäumen gewonnen werden, sondern darüber hinaus auf die überprüfbare Erfahrung, dass das Gefühl als Ordnungssinn zu gelten hat und dass die Gefühle eine spezifische Grammatik aufweisen.

Beide Ansätze sind für das Entstehen der Biographik in ihrer jetzigen Gestalt konstitutiv gewesen, und sie verhalten sich zueinander wie Standbein und Spielbein. Ohne deren Zusammenwirken hätte es kein sicheres Voranschreiten zu dem Erfolg gegeben, der die biographische Empirie befähigt, über die unbeschränkte Geltung des Gastrechts aufzuklären – dies ohne die menschliche Freiheit infrage zu stellen, sondern, im Gegenteil, zur Aufklärung darüber zu dienen, was unter „Freiheit“ zu verstehen ist. Dass sie den Rang einer wahrhaft metaphysischen Wissenschaft beanspruchen darf, unterscheidet sie von anderen Ansätzen zur Diagnostik und Therapeutik.

Mein dreitägiges Seminar befasst sich mit der „Grammatik der Gefühle“ und der „Choreographie der Versöhnung“. Es widmet sich der Aufgabe, anhand von Krankengeschichten das diagnostische und therapeutische Zusammenwirken von genographischer Analyse und Rekonstruktionsarbeit zu demonstrieren. Während die genographische Analyse das Feld für einen distanzierten methodischen Blick auf versteckte Sollbruchstellen im Leben von Klienten eröffnet, ermöglicht die Rekonstruktionsarbeit die unmittelbare Erfahrung mit dem Unterschied zwischen dem kindlichen Rollenspiel in Stellvertretungsfunktionen und dem Innewerden des Ernstes, der zur Wahrnehmung der wirklichen historischen Position von Personen verpflichtet.

Aus der Entdeckung der für das menschliche Leben spezifischen Stellvertretungsordnung ist das theoretische Gerüst einer verlässlichen genographischen Analyse erwachsen. Aber auch bei großer Erfahrung mit dieser grundlegenden Methode verrät sie häufig noch nichts von den Geheimnissen ungelebten Lebens und unerfüllter Liebe, die sich in Symptomen verbergen und auf deren Entschlüsselung es insbesondere ankommt, um den therapeutischen Prozess zu befördern. Vielmehr zeigt sich zumeist erst bei der Rekonstruktionsarbeit, was es damit auf sich hat. Erst wenn Klienten sich auf eine biographische Würdigung ihrer Gefühle einlassen, können sie am eigenen Leibe ihre kindlichen Loyalitäten erfahren und sich für eine neue Selbstfindung und Verbundenheit entscheiden. Die Besonderheit, wodurch die Rekonstruktionsarbeit über die genographische Analyse hinauswächst, besteht darin, dass sie zu der Einsicht verhilft, dass der Unterschied zwischen Liebe und Tausch keinerlei Verwechslung verträgt, weil er demjenigen von Leben und Tod gleichkommt. Im Dienst der Wahrhaftigkeit gilt es, unbedingt zwischen prinzipieller Ersetzbarkeit der Funktionsträger in der Struktur von Systemen und prinzipieller Unersetzbarkeit von Personen innerhalb ihrer Familiengeschichte zu unterscheiden.

Therapie ist ohne Friedensschluss mit den Vergangenen nicht möglich, und Frieden entspricht der Erfahrung, dass die Würdigung der Toten gleichbedeutend ist mit dem Empfang ihres Segens. Der empirische Nachweis dieser Hypothese ergibt sich aus der Anwendung der biographischen Rekonstruktionsmethode. Als eine spezifische Form von Systemaufstellung ist diese zugleich das wichtigste Experimentierfeld, auf dem sich die allgemeingültige Grammatik der Gefühle anhand des dabei zur Geltung gebrachten Symbolismus erfahren lässt. Gleichwohl ist sie auf eine entfaltete Technik der genographischen Analyse angewiesen. Vor diesem Hintergrund erweist sich allerdings die Rekonstruktionsarbeit als der lebendigere, weil unmittelbar empfundene Part biographischer Orientierungshilfe.

Die therapeutische Aufgabe besteht in der Ermutigung des Klienten, die Schwelle zu überwinden, die seine Kindheit vom Erwachsenwerden trennt, den allgegenwärtigen Boden der Macht des Gastrechts in heilem Zustand zu erreichen und die Bereitschaft zu entwickeln, als Erwachsener das Tor für Zukünftiges zu öffnen. Darum bezeichne ich die Rekonstruktionsarbeit als „Choreographie der Versöhnung“.